ANTON THIEL



ÜBER GOTT UND DIE WELT - Texte zu unterschiedlichen Themen

Wenn es eine Übereinstimmung von Form und Inhalt geben soll – wie an anderem Ort gefordert – stehe ich vor dem Dilemma, auf simpler Html-Basis (so sind die meisten Seiten aufgebaut) den einfachsten Grundprinzipien typografischer Gepflogenheit nicht entsprechen zu können. Ich weiß trotz voreingestellter Parameter nie, wie meine Schrift auf dem Computerbildschirm meines anonym (!) bleibenden Besuchers erscheint. Dieses Phänomen führt meinen Aufstz über die "Arialisierung der Welt" ad absurdum, erscheint dieser möglicherweise gerade in dieser Schrift. Allerdings stützt dieser Umstand meine These, dass es diesbezüglich kein Entrinnen gibt und das Überleben in einer Kultur schon immer damit verknüpft war, auch das gößte Übel stoisch zu ertragen. Allerdings habe ich jeden Artikel im Pdf-Format bereitgestellt, um diesem Missstand ein wenig entgegenzuwirken.

Zum Problem der Typografie im Internet:

Anton Thiel Thujenarial pdf

Anton Thiel: Gaffen, glotzen, schauen.

Wenn das Wörterbuch „mit offenem Mund gaffen“ als „neugierig schauen“ übersetzt, dann wäre dies schon eine vielversprechende Fähigkeit, die jedem Schüler (den Erwachsenen detto) zu wünschen wäre. Vielmehr wird jedoch geglotzt. Leider auch im BE-Unterricht, und zwar immer dann, wenn der leicht überforderte Lehrer die Glotze andreht, um statt seine eigene Begeisterung zu zeigen die DVD sprechen zu lassen. „Die können das einfach besser“, ist die ja nicht so unrichtige Einschätzung der Sachlage, energetisch auch um vieles sinnvoller, denn über den Bildschirm wuseln unzählige Details, die Kamera zoomt bis zur Unanständigkeit an das Kunstwerk heran, gutaussehende ExpertInnen im Anzug und klappernden Stöckelschuhen sagen meist Überflüssiges, also leicht Verständliches und mit dem Mainstream Kompatibles – dies aber mit dem nötigen Ernst eines Sachverständigen – ins gut ausgesteuerte Mikrofon, ohne irgendwann auch nur ansatzweise dem fiktiven Publikum die mahnende Worte hinschleudern zu müssen, doch nicht gar so blöd zu gaffen und endlich aufzupassen. Ja, wir lagern wie alle in unserer Gesellschaft unsere Grundkompetenzen aus (man verzeihe mir das dümmliche Schlagwort für den Zustand, etwas zu können) und verlassen uns aufs Glotzen. Ja, wir lassen glotzen, um hernach das so Wahrgenommene (nein, nicht Wahrgenommene: lediglich Erglotzte) in lächerliche Worthülsen (kompositionelle Spannung, rhythmische Farbkomposition, gesellschaftlicher Gestaltungswille, formale Widerspiegelung sozialen Gefüges) zu pressen. Wer aber schaut noch? Nimmt wahr im besten Sinne des Wortes? Wer zündet die Imagination  jener fantastischen, selig machenden Räume und Formen, die Kunst ausmachen, in den uns anvertrauten Schülern? Der Gesetzgeber lässt uns im Stich, wenn im Lehrplan statt von der wunderbaren Fähigkeit des Schauens lediglich von einer visuellen Kommunikation gesprochen und ein reflektives Blabla eingefordert wird, das jedes halbwegs sinnlich empfindende Individuum völlig blunzn ist (Pardon: es für dessen psychischen und sozialen Werdegang ohne jegliche Relevanz wäre), aber nicht das Grundlegendste einfordert, nämlich Schauen zu lernen. Schauend begreifen heißt nun einmal zuerst zuzulassen, mit Muße und Leidenschaft seine Augen auf etwas zu heften, das Interesse weckt und Begehren erzeugt bis hin zum Verlangen, es verschlingen zu wollen. Nein, ich plädiere nicht für die edle Gleichgültigkeit und die schnöselige Coolness. Schauen ist ein Akt der Anmaßung. Solange die Schau der Welt in unseren Schulen mittels einer simulierten Wirklichkeit erprobt und eingeübt werden soll, wird sie zum Scheitern verurteilt sein. Das Wunder der Wahrnehmung vermittelt sich nicht in der Gleichgültigkeit jener Medien, die uns so selbstgefällig und anmaßend die Aufgaben abzunehmen scheinen.

Ich plädiere vorerst einmal für eine Ausbildung des Schauens. Nun ist diese Forderung ja gar nicht so neu, hat doch Oskar Kokoschka 1953 in Salzburg die „Schule des Sehens“ gegründet. Mittlerweile ist diese Bewegung in die Niederungen des alltäglichen Missverstehens hinabgesunken, darf für alles und jedes stehen, doch kaum fürdas, wofür sie gedacht war: Menschen zu einer autonomen Sichtweise der Wirklichkeit verhelfen zu wollen, einer vertieften und verdichteten Erkenntnisfähigkeit, einem visuellen Begreifen, das sich nicht an Standards und Normen misst. Kokoschka orientierte sich an dem großen humanistischen Pädagogen und mährischen Bischof Jan Comenius, in dessen Schulbuch „Orbis pictus“ Bild und Text in einen fruchtbaren Dialog gesetzt werden. Sinnliche Wahrnehmung als Bildungsauftrag! Ich habe vor Kurzem die Bücher meiner Schüler durchgeblättert und entsetzt feststellen müssen, dass keines dieser Bildungsbegleiter auch nur im Entferntesten in die Nähe des 1653 erschienenen „Orbis sensualium pictus“ kommt, weder in der verwendeten Bildsprache noch in der eingesetzten Typographie und im für das Auge so entscheidenden Layout. Fast alles ist lieblos hingesudelt, weit entfernt von der so hehren Aufgabe der Vermittlung der (sichtbaren) Wunder dieser Welt.

Was tun? Raus aus dem Schulgebäude und gaffen, was das Zeug hält. Und Geduld aufbringen, dass sich daraus etwas entwickelt.

Erschienen in: BÖKWE, Fachblatt des Berufsverbandes Österreichischer Kunst- und WerkerzieherInnen, Nr. 2, 2013 (Glosse unter dem Titel: STRANDGUT. Vom Herumstreunen der Gedanken)

Johann Amos Comenius: Orbis sensualium pictus; https://de.wikisource.org/wiki/Orbis_sensualium_pictus


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